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Channel: Syrien – Gruß vom Bosporus
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Das Massaker von Ankara

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Auch wenn der Gerechtigkeitsmarsch des Oppositionsführers Kemal Kılıçdaroğlu derzeit die Schlagzeilen aus der Türkei beherrscht, gibt es noch andere Themen, die wichtig sind. Viele Themen, von denen eine große Zahl nie ihren Weg in die internationalen Medien finden. Ein riesiger Komplex sind die zahllosen brisanten Gerichtsprozesse. In normalen Zeiten, oder sagen wir, in einem Land mit demokratischen, friedlichen Verhältnissen wie der Bundesrepublik, wären diese Justizverfahren für Titelschlagzeilen und ausführliche Berichte gut. Anders in der Türkei. Einerseits sind es zu viele Prozesse und zu viele Themen, andererseits kann es in Zeiten der heraufziehenden Diktatur heikel sein, über bestimmte Aussagen zu berichten.


„Adalet“ – Gerechtigkeit! Der Marsch am Golf von Izmit.

So werden derzeit fast alle großen Terroranschläge der letzten Jahre in der Türkei verhandelt; doch auch in den türkischen Medien finden sie praktisch nicht statt, geschweige denn in der Weltpresse. Etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen zumindest die großen sogenannten FETÖ-Prozesse um mutmaßliche Putschisten des 15. Juli 2016, aber auch dort ist die Zahl journalistischer Beobachter überschaubar. Vielleicht am meisten Aufmerksamkeit widmen zumindest die oppositionellen türkischen Medien den Prozessen um die vielen inhaftierten Journalisten und Schriftsteller (was natürlich nahe liegt).

Ich hatte die Gelegenheit, einen der wichtigsten Terror-Prozesse in Ankara mehrere Tage lang zu beobachten – das Verfahren um den schrecklichen Doppelselbstmordanschlag auf eine Friedensdemonstration vor dem Hauptbahnhof von Ankara am 10. Oktober 2015. Am heutigen Dienstag wurde es fortgesetzt. In diesem Prozess um den schlimmsten Terroranschlag der türkischen Geschichte war außer mir, soviel ich weiß, bisher kein anderer ausländischer Korrespondent, um darüber zu berichten. Das ist bedauerlich.

Immerhin beobachten deutsche Gewerkschaftler aus Hamburg und zwei Anwälte aus Bremen aus eigener Initiative den Prozess, soweit sie Zeit dafür finden. Leider haben die deutschen Gewerkschaften sich bisher nicht dazu durchringen können, offizielle Beobachter zu entsenden. Das wäre ein deutliches und wichtiges Zeichen der Solidarität, denn viele Opfer waren Mitglieder türkischer Gewerkschaften.

Meine Reportage aus dem Gerichtssaal erschien am 15. Juni in der Frankfurter Rundschau und am 5. Juli in der Berliner Zeitung. Hier stelle ich eine ausführlichere Version für alle ein, die sich für dieses Thema interessieren. Zuerst aber noch ein paar Bilder vom Gerechtigkeitsmarsch, als die Demonstranten am Golf von Izmit entlangzogen.

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Das letzte Wort hat Erdoğan

102 Menschen starben im Oktober 2015 beim schwersten Terroranschlag in der Geschichte der Türkei. Sie alle wollten für den Frieden demonstrieren. Wie agierten die Attentäter, die dem IS zugerechnet werden? Wie verstrickt ist der Staat? In einem Mammutprozess wird in Ankara nach der Wahrheit gesucht.


Überlebende, Angehörige und Unterstützer bei einer Kundgebung vor dem Justizpalast in Ankara. Am Mikrofon Anwältin Mehtap Sakinci Coşkun.

Wieder hat sich Emine Onat aus Istanbul auf den Weg zum Justizpalast im Zentrum der türkischen Hauptstadt Ankara gemacht. Sie steht in einer Menschenmenge, die sich vor dem klotzigen Dreißigerjahrebau sammelt. Weinend umklammert die 42-jährige Frau eines von 101 Großfotos, die vor dem von Polizei stark gesicherten Gerichtseingang aufgestellt wurden. Fotos der Toten, die beim schwersten Terroranschlag der türkischen Geschichte starben, als sich zwei Selbstmordattentäter inmitten von zehntausend Demonstranten in die Luft sprengten. „Oh Azize, ich vermisse dich so sehr“, klagt sie laut.


Emine Onat mit dem Foto ihrer ermordeten Schwester Azize.

Der Anschlag geschah am 10. Oktober 2015 um 10:05 Uhr vor Ankaras Hauptbahnhof, an einem warmen Spätsommertag. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan hatte zuvor erstmals ihre parlamentarische Mehrheit verloren, in der Folge die Friedensgespräche mit der Kurdenguerilla PKK aufgekündigt und Neuwahlen angesetzt. Die Stimmung im Land war aufgeheizt. Hunderte Kurden wurden verhaftet, Kampfjets bombardierten PKK-Stellungen. Schwere Terroranschläge beunruhigten die Menschen. Ein Bündnis linker Parteien und Gewerkschaften mobilisierte deshalb zu der Demonstration für Frieden in Ankara, und Tausende kamen.

Mit bebender Stimme

Die furchtbare Doppelexplosion wird der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zugeschrieben, auch wenn die Gruppe sich selbst nie dazu bekannt hat. Als Attentäter wurden ein bisher unbekannter Syrer und der 25-jährige Yunus Emre Alagöz aus dem ostanatolischen Adıyaman identifiziert, dessen jüngerer Bruder drei Monate zuvor in der Grenzstadt Suruç 33 Friedensaktivisten mit einer Bombe in den Tod gerissen hatte.

„Nach der Explosion hat Azize noch gelebt, aber weil die Polizei eine Stunde lang keine Ambulanzen durchließ, kam sie zu spät ins Krankenhaus und starb mit gerade 44 Jahren“, erzählt Emine Onat, während sie mit den Fingern zärtlich über das Foto ihrer Schwester streicht. Anfang Mai war die dritte Verhandlungswoche in dem seit November laufenden Prozess. Emine Onat hatte schon im Februar im überfüllten großen Saal des Strafgerichts ihre Geschichte mit bebender Stimme zu Protokoll gegeben. „Warum wurde Azize ermordet? Weil sie Frieden wollte. Ich klage die Polizei und den Bürgermeister von Ankara an! Sie alle müssten hier auch vor Gericht stehen.“


Emine Onat mit dem Foto ihrer ermordeten Schwester Azize.

Tatsächlich angeklagt sind 35 mutmaßliche Dschihadisten, von denen aber nur 18 am Prozess teilnehmen. Drei, die sich bei einem Polizeieinsatz mutmaßlich selbst in die Luft sprengten, sind tot, die anderen wohl in Syrien. Für 15 Angeklagte, denen eine direkte Beteiligung am Massaker vorgeworfen wird, hat der Staatsanwalt mehrfach lebenslänglich beantragt; für die übrigen lange Gefängnisstrafen.

Weil vor der Richterbank kein Platz mehr ist, ruft der Vorsitzende Richter Emine Onat und andere Zeugen im Zuschauerraum auf. Einige gehören zu den über 400 Verletzten und sind noch immer von dem Blutbad gezeichnet, humpeln mit Krücken in den renovierungsbedürftigen Saal. Neben den 250 Zeugen und Zuhörern spielen in dem Mammutprozess zehn Pflichtverteidiger und 30 freiwillige Anwälte der Nebenklage eine Rolle, dazu ein Dutzend Gendarmen und ebenso viele Aufstandspolizisten in voller Kampfmontur, die die Angeklagten gegen die Zuschauer abschirmen.

Heikler Balanceakt

Nur wenige Journalisten von kleinen türkischen Oppositionszeitungen beobachten den Jahrhundertprozess. „Das Fernsehen ignoriert ihn, weil es Linke traf, und die sind die falschen Opfer“, sagt ein Anwalt der Nebenkläger. Das Gericht steht vor einem bekannten Dilemma. Es schuldet den Angehörigen Aufklärung und der Staatsräson harte Urteile, aber es darf auch nicht zu tief graben und mögliche staatliche Verstrickungen aufdecken. Einerseits ist der IS inzwischen offiziell zum Staatsfeind erklärt worden, was der Aufklärung nützt, andererseits sind die Opfer und Nebenkläger Sozialisten, Kommunisten, Kurden, die ebenfalls als Staatsfeinde gelten. Das zwingt Staatsanwalt und Richter zu einem heiklen Balanceakt und führt dazu, dass wesentliche Ermittlungsergebnisse trotz hartnäckiger Nachfragen der Opferanwälte nicht vorliegen – zum Beispiel die Telefonüberwachungsdaten des Attentäters Alagöz.

Auch die Familien und Nebenkläger machen Druck. Sie haben sich in einem Verband organisiert und sorgen dafür, dass im Gerichtssaal öffentlich politischer Klartext gesprochen wird – was ansonsten selten geworden ist in der unter dem Ausnahmezustand ächzenden Türkei Erdoğans. Die Anklage führt Indizien an wie Fingerabdrücke, Videoüberwachung, beschlagnahmte Unterlagen und die umfassende Aussage eines Haupttäters, der vier Tage nach dem Anschlag gefasst wurde.

Mit leeren Gesichtern hören die Angeklagten tagelang zu, als Angehörige und Überlebende wie Emine Onat berichten, was sie am 10. Oktober 2015 erlebten. Für viele Zeugen ist die Aussage eine Qual. Manche schildern das Unheil sachlich und kurz, andere wütend und laut. Einige schluchzen, andere klagen an. Ihre Geschichten handeln von apokalyptischen Szenen auf dem Bahnhofsvorplatz. Vom Blut und den Schreien der Verletzten. Den Traumata, den nie heilenden psychischen Wunden. Doch sie lassen auch eine unterdrückte Dimension des Massakers so klar hervortreten, dass dieses Gericht sie nur schwer ignorieren kann: die mögliche Verwicklung des Staates.

„Immer wenn wir zu Demonstrationen nach Ankara fuhren, hat uns die Polizei mehrfach gestoppt und durchsucht“, berichtet Herr Ümit Kamlioğlu aus der Ägäisstadt Aydın, der seine Tochter Elif verlor. „Kann uns jemand erklären, warum nichts davon diesmal geschah?“ Auch Sidar Yildiz, eine junge Frau aus dem anatolischen Kahramanmaraş, deren Mutter starb, stellt diese Frage. Erst nach den Explosionen sei die Polizei plötzlich aufgezogen, habe den Platz abgeriegelt und die schwer Verletzten mit Pfeffergas beschossen. „Als wir sie baten, die Verwundeten rausbringen zu können, schlugen sie uns mit Stöcken. Ich dachte, gleich werden sie uns alle erschießen!“

Erdoğan Tedik, 66, Gewerkschaftler aus dem ostanatolischen Malatya, bezeugt, dass er seinen 33-jährigen Sohn Korkmaz bei dem Massaker verlor. Über den Moment der Explosion der zweiten Bombe sagt er: „Körperteile flogen durch die Luft, und der Himmel war mit Blut gefüllt.“ Der 50-jährige Gewerkschaftler Nazım Karakurt, der bei dem Massaker 14 gute Freunde verlor, erinnert sich an eine besonders schauerliche Szene. „Ein Polizist ging mit gezogener Pistole über den Platz. Er trat achtlos auf die toten Körper meiner Freunde oder stieß sie beiseite.“


Angehörige haben Fotos der Ermordeten vor dem Eingang zum Justizpalast aufgestellt.

Staatliche Vertuschungsstrategie?

Laut einem Bericht der Ärztegewerkschaft TTB starben rund zehn Prozent der Opfer wegen des Tränengaseinsatzes und der Absperrungen der Polizei. Auch ein Report des Innenministeriums erhob schwere Vorwürfe gegen die Polizeiführung und forderte die Bestrafung von Beamten. Doch der Generalstaatsanwalt lehnte dies ab, und der Bericht wurde nicht zu den Gerichtsakten genommen.

Trotzdem ist es ein großes Verdienst des Prozesses, dass er öffentlich wichtige Fragen aufwirft: Wie ist die unmenschliche Reaktion der Polizei zu erklären? Wieso konnte der mächtige Geheimdienst MIT die Katastrophe nicht voraussehen? Warum hatten rund 70 aktenkundige Warnungen des Dienstes über einen geplanten IS-Anschlag auf eine politische Versammlung hatten keine Folgen? Warum wurden die mutmaßlichen polizeibekannten IS-Selbstmordattentäter nicht rund um die Uhr beschattet? Und warum sagten die Sicherheitskräfte den Veranstaltern am Abend vor der Demonstration zwar eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen zu, hielten diese aber nicht ein?

Das Gericht ordne sich der staatlichen Vertuschungsstrategie unter, sagen die Opferanwälte. Sie erinnern an das Wort des damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu, der nach dem Anschlag in einem TV-Interview einräumte: Ja, es gebe eine Liste potenzieller Selbstmordattentäter. Solange diese ihre Pläne aber nicht in die Tat umsetzten, könne man auch nichts unternehmen. Die Türkei sei schließlich ein „demokratischer Rechtsstaat“. Doch ging es nicht um Islamisten, waren präventive Festnahmen schon damals gang und gäbe, sagen die Juristen.

Einen eindringlichen Auftritt hat die junge Anwältin Mehtap Sakinci Coşkun, langes schwarzes Haar, schwarzer Rock, deren Ehemann Uygar von den Bomben zerrissen wurde. Als einzige Nebenklägerin kann sie den Angeklagten direkt in die Augen blicken. „Sie haben Lehrer, Ingenieure, Studenten, Schüler, selbst kleine Kinder getötet“, sagt sie mit fester Stimme. Dann liest sie die Namen aller Toten laut einzeln vor.

Kaum ist sie fertig, zischt einer der Angeklagten: „Diese kurdischen Hunde haben bekommen, was sie verdienen.“ Im Saal bricht das Chaos aus. Flaschen fliegen, Menschen kreischen, einige können nur mit Mühe zurückgehalten werden, sich auf die Angeklagten zu stürzen. Die Polizisten setzen ihre Helme auf, greifen die Schlagstöcke, einige prügeln auf die Opfer los, einer ruft: „Das ist für euch, ihr Terroristen!“ Nur mit Mühe kann der Vorsitzende Richter den Saal räumen lassen.

Die Islamistenszene in Gaziantep

Die Spannung sei „extrem hoch“, erklärt der erfahrene Richter Selfet Giray, der als gerecht, aber auch regierungsnah gilt. Immer wieder ruft er Zuhörer und Angeklagte zur Ordnung. Die 22 bis 36 Jahre alten Beschuldigten geben als Berufe meist einfache Tätigkeiten wie Lastenträger, Dönerverkäufer, Bauarbeiter an; zwei nennen sich Immobilienmakler. Einige standen früher schon als Mitglieder von Al-Kaida vor Gericht; viele sind untereinander verwandt. Die meisten sprechen ein einfaches Straßentürkisch und erkennen das Gericht nicht an.

„Mein einziger Richter ist Allah“, sagt der Angeklagte Talha Güneş, der den Sprengstoff gemischt haben soll. Alle Angeklagten treten selbstbewusst und anmaßend auf, Reue lässt niemand erkennen. Einige standen früher bereits als Mitglieder von Al-Kaida vor Gericht; viele sind untereinander verwandt. Nur eine Person fällt aus dem Rahmen. Die einzige angeklagte Frau, Esin Altintuğ. „Ich habe nichts vom IS und dem Anschlag gewusst“, beteuert sie.

Als sie im Februar befragt wird, beantwortet die Ehefrau von Halil Ibrahim Durgun, dem Fahrer der beiden Attentäter, zwei Stunden lang die Fragen des Gerichts. Die 34-Jährige wirkt, als sei sie nur zufällig auf die Anklagebank geraten, so wenig hat ihr Äußeres mit dem Dschihadismus zu tun: blondierte lange Haare, Jeans, schwarze Samtjacke. Doch so sehr Esin Altintuğ versucht, naiv zu erscheinen, entsteht aus ihren Antworten trotzdem ein Soziogramm der Islamistenszene in der Millionenstadt Gaziantep, dem IS-Zentrum in der Türkei.

Als sie ihren Mann 2014 heiratete, war sie geschieden und hatte bereits zwei Kinder. Sie hatte Durgun, der „das Nachtleben liebte und gern Alkohol trank“, über Freunde aus der AKP kennengelernt, bei der sie Mitglied war. Mit ihm bekam sie weitere zwei Kinder. Ein Jahr vor dem Anschlag habe er angefangen zu beten, mit dem Trinken aufgehört und ihr befohlen, einen Gesichtsschleier zu tragen, erzählt sie. Damals habe Durgun regelmäßig Männer eingeladen, die er angeblich aus einem „Korankurs“ kannte. Auch sie selbst musste nun in einen Korankurs gehen. Der fand bei einem „Imam“ direkt gegenüber dem Rathaus von Gaziantep statt.

„Niemand dort sprach je über den IS“, behauptet Esin Altintuğ. Wirklich? Der IS baute damals in Gaziantep ein konspiratives Netz auf, lange geduldet vom türkischen Staat, bis dieser sich im August 2015 der internationalen Koalition gegen den IS in Syrien anschloss.

Anlaufstelle für Dschihadisten

Warum Gaziantep? Die Millionenstadt, die früher einmal als „anatolischer Tiger“ für die aufstrebende Wirtschaft der Region berühmt war, liegt nur knapp hundert Kilometer von der syrischen Grenze entfernt an der Hauptstraße nach Aleppo. Aus der syrischen Metropole flüchteten bis heute rund 400.000 Menschen nach Gaziantep, wichtige Verbände der syrischen Opposition bezogen dort Büros, aber die Stadt wurde auch zur Anlaufstelle für Dschihadisten, die sich in Syrien Milizen wie der Al-Kaida-nahen Al-Nusra-Front oder dem IS anschließen wollten.

Bis heute gelten mindestens drei Stadtviertel als „total IS-verseucht“, wie Zeugen in Ankara erzählen. Deutlich wird auch, wie ungehindert die Dschihadisten die Grenze nach Syrien überqueren konnten. „Angeblich schützt unsere Polizei die Grenze, in Wahrheit hat sie sie geöffnet“, sagt der 46-jährige Opferanwalt Özcan Karakoç, der die Prozessstrategie der Nebenkläger koordiniert.

Esin Altintuğ behauptet, nichts von all dem gewusst zu haben. „Mein Mann ist morgens zur Arbeit in einer Fabrik gegangen und abends zurückgekommen“, sagt die Frau des Dschihadisten. Tatsächlich war es sein Job, Autos für die Terroristen zu besorgen. Am Tag nach dem Anschlag kam er zurück nach Gaziantep, sprach wenig und tauchte unter, weil er mit Haftbefehl gesucht wurde. Sie hielt aber mit ihrem Handy Kontakt und zog einen Monat später auf seinen Befehl mit den Kindern in ein „sicheres Haus“, um von dort mit ihm nach Syrien aufzubrechen.

Jetzt erst will sie ihn gefragt haben: „Hast du diese Leute in Ankara getötet?“. Seine Antwort: „Das geht dich nichts an, ich musste das tun.“ Kurz darauf stürmte die Polizei das Gebäude. Durgun zündete seinen Sprengstoffgürtel und starb, Altintuğ blieb unverletzt. Nach ihrer Vernehmung wird sie als mutmaßliche IS-Helferin im Gerichtssaal verhaftet.

Unter den übrigen Angeklagten sind Talha Güneş, 35, und Abdulmuttalib Demir, 36, die wichtigsten und gefährlichsten. Beide sind sich im Auftreten und Aussehen ähnlich, mittelgroß, gestutzter Vollbart, arrogant. Von beiden gibt es Videos aus syrischen IS-Lagern, in denen man sieht, wie sie Gefangene enthaupten. „Ich bin hier angeklagt, weil ich ein gläubiger Muslim bin“, behauptet Talha Güneş, der als einziger der Angeklagten eine Universität besucht hat und einen Abschluss in vergleichender Literaturwissenschaft besitzt. Sein Bruder Ahmet Günes wurde 2014 in einem anderen IS-Prozess wegen Mordes verurteilt und hält sich vermutlich in Syrien auf.

„Die Anklage wurde von Feinden des Islams geschrieben“, erklärt Demir, dem der Staatsanwalt vorwirft, ein „Emir“ des IS zu sein. Güneş war laut Anklage der „Chemiker“ des IS in Gaziantep. Demir, von Beruf Schneider, soll die Sprengstoffwesten genäht haben.

Geheime Treffen? Codenamen?

Trotz erdrückender Beweislast stellen sich beide unwissend. IS? Nie gehört. Geheime Treffen? Nicht mit ihnen. Codenamen? Unsinn. Warum Demir dann auf Videos einer Überwachungskamera zu sehen sei, die das zentrale „Warenhaus“ des IS in Gaziantep filmte? Die Videos zeigen, wie er und sein Schwager Yunus Durmaz, der sogenannte „Gaziantep-Imam“ des IS, Kisten abtransportieren. „Da waren Korane drin. Außerdem Süßigkeiten zum Ramadan“, fabuliert Demir. „Hören Sie mit diesem Mist auf“, faucht ihn der Richter an. Bei einer Razzia wurden in dem Lager hunderte Kilo TNT, Sprengstoffwesten, Maschinenpistolen und Munition entdeckt.

Demir und Güneş machen allerdings keinen Hehl daraus, dass sie auch nach dem Anschlag trotz Haftbefehl noch ständig nach Syrien pendelten, obwohl nach ihnen mit Haftbefehl gesucht wurde. Weil „die Grenzbeamten die Hand aufhielten“, habe es nie Probleme gegeben, sagen sie. Das Milieu der islamistischen Gangs und Clans, deren Mitglieder sich teils schon seit der Kindheit kennen, erscheint in diesem Prozess als eine Melange aus organisiertem Verbrechen und staatlich geduldetem Terrorismus. Mit dem IS-Geld aus Syrien organisierten die Täter die „sicheren Häuser“ in Oberklassevierteln, Fahrzeuge, Waffen, Munition.

Im Prozess regiert auf der Anklagebank das Gesetz der Omertá. Außer dem Kronzeugen, der alle Lager und Schlupfwinkel des IS in Gaziantep preisgab, spricht niemand über Details. Als die Frau des mutmaßlichen IS-Logistikers Metin Akaltın vernommen wird, zischt er ihr zu: „Sag‘ nichts!“. Und sie bleibt stumm.

Erdrückende Beweise

„Wir kommen trotzdem voran“, sagt der Opferanwalt Özcan Karakoç im Gespräch. „Ich habe alle 40.000 Seiten der Akten gelesen, während das Gericht nicht einmal die Seiten des jeweiligen Prozesstages kennt. Deshalb sind wir ihm immer einen Schritt voraus.“ Die Akten enthalten zum Beispiel Excel-Dokumente, die Gehälter des IS an einige Angeklagte auflisten. Denn die Terroristen führten penibel Buch. In Videos aus syrischen Terrorcamps sieht man Attentäter und Angeklagte bei Schießübungen.

„Vor allem die digitalen Beweise sind erdrückend”, sagt Karakoç. „Aber sie könnten noch viel besser sein.“ Auf Überwachungsvideos seien mindestens noch 20 weitere Personen zu erkennen, die in den IS-Häusern verkehrten. „Möglicherweise nicht nur Terroristen, sondern auch Geheimdienstmitarbeiter. Wir sind sicher, dass man uns Beweismittel vorenthält.“ Besonders auffällig sei das Fehlen von Geheimdienstdossiers über einige Angeklagte, obwohl diese offenbar überwacht wurden. Doch manchmal haben die Anträge Erfolg, und jede neue Akte, jede neue Daten-CD aus den polizeilichen Ermittlungen bringt die Anwälte ein kleines Stück weiter.

Je mehr Akten sie bekämen, sagt Karakoç, desto deutlicher werde aber, dass es Verbindungen von Beschuldigten zu staatlichen Sicherheitskräften gebe. So habe einer der Beschuldigten in einem abgehörten Telefonat bezüglich eines Problems gesagt: „Unser Bruder in der Polizeistation wird sich darum kümmern.“ Ein anderer war sogar Chauffeur des Vizegouverneurs von Gaziantep. Auch die Tatsache, dass der IS in den Wahlkämpfen von 2015 plötzlich begann, Linke und Kurden in der Türkei anzugreifen, gebe zu denken. „Wir glauben, dass es eine Verbindung zwischen der AKP und dem IS gibt“, sagt Karakoç. „Sie wussten, dass ein solcher Anschlag kommen würde, aber sie taten nichts, um ihn zu verhindern.“


Opferanwalt Özcan Karakoç in seinem Büro in Istanbul.

Man müsse nun abwarten, ob die Verbindungen der Attentäter zu staatlichen Stellen, dubiosen Hilfsorganisationen und islamistischen Stiftungen im Prozess näher untersucht würden. „Der Richter hat es in der Hand. Entweder verurteilt er nur die hier Angeklagten oder er bringt auch die Mitwisser vor Gericht. Leider ist der Reflex, Staatsdiener zu beschützen, in der türkischen Justiz übermächtig.“ Aber Karakoç weiß, dass am Ende ohnehin jemand anders entscheidet. „Das letzte Wort in diesem Prozess wird Präsident Erdoğan sprechen“, sagt der Anwalt. „Daran kann es wohl keinen Zweifel geben.“

Fotos: Frank Nordhausen

Sie können mir auf Twitter folgen: @NordhausenFrank


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